Herbergsuche – ein Theaterspiel

Herbergsuche – ein Theaterstück, gesprochen von Eveline Renell und Winfried Senger
Herbergsuche – ein Theaterstück von Willi Hoffsümmer “Geschichten wie offene Türen”

Joshua war gerade neun Jahre alt geworden und ging in die zweite Grundschulklasse, obwohl er schon in der vierten hätte sein sollen. Eigentlich wäre Joshua im Krippenspiel gern ein Schäfer mit einer Flöte gewesen, aber seine Lehrerin hatte ihm eine wichtige Rolle zugedacht. So versammelte sich wie gewohnt die große Zuhörerschaft zu der alljährlichen Aufführung der Weihnachtsgeschichte mit Hirtenstäben und Krippe, Bärten, Kronen, Heiligenscheinen und einer ganzen Bühne voll heller Kinderstimmen. Es kam der Augenblick, wo Josef auftrat und Maria behutsam vor die Herberge führte. Josef pochte laut an die Holztür, die man in die gemalte Kulisse eingesetzt hatte. Joshua als Wirt stand dahinter und wartete. “Was wollt ihr?” frage er barsch und stieß die Tür heftig auf. “Wir suchen Unterkunft.” “Sucht sie anderswo!” Joshua blickte starr geradeaus, sprach aber mit kräftiger Stimme: “Die herberge ist voll.” “Herr, wir haben ü+berall vergeblich gefragt. Wir kommen von weither und sind sehr erschöpft.” – “In dieser Herberge gibt es keinen Platz für euch!” Joshua blickte streng. “Bitte, lieber Wirt, das hier ist meine Frau Maria. Sie ist schwanger und braucht einen Platz zum Ausruhen. Ihr habt doch sicher ein Eckchen für sie. Sie ist so müde…” jetzt lockerte der kleine Wirt zum ersten Mal seine starre Haltung und schaute auf Maria. Dann folgte eine lange Pause, solange, dass es für die Zuhörer schon ein bisschen peinlich wurde. “Nein, schert euch fort!” flüsterte der Souffleur aus der Kulisse. “Nein
!” wieder holte Joshua automatisch. “Schert euch fort.” – Traurig legte Josef den Arm um Maria und Maria lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. So wollten sie ihren Weg fortsetzen.
Aber der Wirt ging nicht wieder in seine Herberge zurück. Joshua blieb auf der Schwelle stehen und blickte dem verlassenen Paar nach.
Mit offenem Mund, die Stirn sorgenvoll gefurcht, und man sah deutlich, dass ihm Tränen in die Augen traten. Und plötzlich wurde dieses Krippenspiel anders als alle bisherigen. “Bleib hier, Josef!” rief Joshua. “Bring Maria wieder her!” Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. “Ihr könnt mein Zimmer haben!”
Manche Zuschauer meinten, Joshua habe das Spiel verdorben. Aber viele, viele andere hielten es für das weihnachtlichste aller Krippenspiele, die sie je gesehen hatten.

Repros nach Fotos von Stephanie und Bernhard Diebold

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