Real oder „nur“ Wirklich?

Beim 2. Workshop für Eltern, also Mütter und Väter, Großeltern usw. zu unseren frühen Lebenserfahrungen und seine späteren Auswirkungen auf Gesundheit und Beziehungen tauchte die Frage nach unserer Orientierung in der Welt auf.

Letztlich bietet uns unser Gehirn ja wie ein „Realitätenkellner“ verschiedene Menüs an Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erlebnisweisen an. Daher ist es wichtig zu wissen, auf welcher Ebene des Bewusstseins bewegen wir uns, welchen Wahrheits- also Realitätsgehalt haben unsere auf Teileindrücken basierenden Wirklichkeitsbeschreibungen, die in höchster Weise in unserem Selbstbild und Verhalten wirksam sind.

Was sagt uns das Bild in Kürze?

  • Realität ist die Gesamtheit des Daseienden, das nicht von Illusionen oder Wünschen abhängt.
    Die Realität bin ich in meinem Umfeld in dem ich und wir Hier und Jetzt leben.
    Allerdings können wir die Realität an sich, können wir alles außerhalb von uns, nicht erfassen: wir erleben immer nur, wie unser Körper auf den Kontakt mit etwas reagiert.
  • Daraus erstellen wir auf der Ebene der Wirklichkeit 1. Ordnung über einem (kleinen) Ausschnitt der Welt eine Orientierung her (eine komplexitätsreduzierte „Karte“, ein Modell von der Welt).
    (Beispiel: Wir erschaffen uns ein Bild vom Raum und können uns damit auch im Dunklen weitgehend unfallfrei bewegen.)
    Unterstützung erfahren wir dabei von unser Intuition, unserem „Bauchgefühl“, und somatischen Markern: bei attraktiven Reizen entspannen wir uns, bei unangenehmen und beängstigenden Reizen ziehen wir uns zusammen.
  • Auf der Ebene der Wirklichkeit 2. Ordnung, die der Kommunikation dient, bedienen wir uns verschiedenster Zeichen (Worte, Bilder), um willkürlich Teile aus der Welt zu benennen, indem wir sie unterscheiden. Es entstehen Erzählungen darüber, wie die Welt sei.
    (Beispiel: „Die Welt ist ein sicherer Ort; ich bin willkommen.“ oder „Ich kann nicht vertrauen; Nähe ist gefährlich; ich bin nicht willkommen.“)
    Diese Narrative*, die auch fiktives, modellhaft verkürztes und fantastisches beschreiben können, machen es unserem Gehirn schwer, zwischen virtuell (Fake, Traum, Narrativ, nur im Kopf des Erzählers stattfindend) und real (faktisch, existierend) zu unterscheiden.
  • Im Austausch mit anderen entsteht die Wirklichkeit 3. Ordnung, wo wir letztlich als Schnittmenge unsere übereinstimmende Weltsicht als gültige Erzählung „verabreden“.
    (Beispiel: Früher wurde der Glaube, z.B. katholisch, evangelisch, auf die Kinder „vererbet“ oder ein Landesfürst legte fest, was ab sofort zu glauben sei).
    Alles außerhalb der Schnittmenge ist nicht kommuniziert und kann vom anderen nicht gerußte werden – auch wenn wir das immer wieder irrigerweise annehmen. Wahrheit ist damit zwar relativ (also von Person, Perspektive und Haltung abhängig) und subjektiv, aber nicht beliebig!
  • Beeinflusst wird die Schnittmenge durch eigene, wie geschichtliche Erfahrungen, von erarbeitetem Wissen und kulturell ererbten Vorstellungen, Traditionen und Gebräuchen.

Gerade in Zeiten medialer Verunsicherung ist den Referenten, der Pädagogin Luisa Ehlicker Glaub und dem Arzt und Psychotherapeuten Dr. Alfons Lindemann, wichtig, real ins Gespräch zu kommen und einen Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen in Gang zu bringen. Denn Bindung und Zugehörigkeit sind wichtige Grundbedürfnisse des Menschen. Ein echtes berührendes Miteinander, wirkt nicht nur in der Kindheit so, dass entweder dieses oder jenes Erleben und Verhalten wahrscheinlicher wird.
Soziale Erfahrungen sammeln wir über unser ganzes Leben und das beeinflusst – anfangs mehr als im Alter – unser Selbstbild, unseren Umgang mit anderen sowie unsere geistige wie körperliche Gesundheit.

War es früher, z.B. während der Kindheit von Dr. Lindemann und anderen älteren Zuhörern noch so, dass Kinder sich angstfrei im Dorf bewegen konnten, so hat sich im Vergleich dazu heute der Bewegungsspielraum der Kinder um erschreckende 90 % reduziert.
Individualisierung und angstmachende Nachrichten spielen dabei eine große Rolle.

Da die entwicklungsgeschichtlich alte Region des Gehirns eine physische Grenze zwischen den uns nicht bewusst zugänglichen Bereichen und dem Großhirn bilden, wurde das limbisches System, abgeleitet vom latein. Wort “limbus”, das soviel wie “Rand” bedeutet, als eine Bewusstseinsschwelle bezeichnet.
Dabei ist auffällig, dass es viele (steuernde) Nervenverbindungen von den entwicklungsgeschichtlich alten Strukturen „unten“ nach „oben“ zum Großhirn, aber nur weniger (bewusst steuernde) Nervenverbindungen zu den unbewusst wirksamen Regionen gibt.
(Beispiel: Jemand hüpft auf einen Tisch, wenn eine Maus durch den Raum läuft, wohl wissend, dass dieses Verhalten irrational und unsinnig ist. Dennoch wird den früher einmal überlebenssichernden Impulsen unserer limbischen Zentren gefolgt.)
In der Konsequenz bedeutet diese Situation in unserem Gehirn, dass uns erzählten Narrative* auch unabhängig von Realitätsbezügen glaubwürdig erscheinen können. Das Gehirn kann Fake von Fakt nicht unterscheiden. Dazu braucht es kontextuelle Bezüge und Überprüfungen bzw. Reflektionen im Zusammenspiel mit anderen.

Schemazeichnung: Lindemann, Foto: A. Kraft

*) Narrativ meint etwas Erzähltes. Wie es wirkt, hängt davon ab, wie es erzählt wird: Angst machend oder Lebensmut und Freude vermittelnd.

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