Wie unsere Kinder lernen, ihr eigenes Potential auszuschöpfen

Auf der 1. Seite der Biebertaler Nachrichten angekündigt und von den örtlichen Familienzentren promotet, weckte die Ankündigung hohe Erwartungen.
Tatsächlich war der kleine Saal des Bürgerhauses in Rodheim auch mit Eltern und Großeltern halb gefüllt, als Frau Karin Schmidt, Fachkrankenschwester und selbständige EnWaKo-Traininerin eine in Rodheim neue Trainingsmethode vorsellte: ENWAKO®
ENtwicklung-WAhrnehmung-KOordination und KOnzentration.

Bei dieser von einem Augenoptikermeister in Fellbach aus Augentraining, Verhaltensoptometrie, Neurofeedback, Muskelreflextherapie, biodynamischer Craniosacral Therapie, Traumatherapie, neurophysiologischer Entwicklungs- förderung und Hörverarbeitung zusammengetragenen Methode dreht sich der therapeutische Blick also vornehmlich um Wahrnehmungsprobleme, um nicht vollständig erloschene frühkindliche Reflexe und damit verbundene Haltungs- und Koordinationsschwierigkeiten, um Konzentrationsprobleme sowie deren Auswirkungen in der Folge.

Inhaltlich habe ich die Hervorhebung dieses Vortrages durch die Familienzentren der Gemeinde nicht verstanden. Hat sich da vorher jemand mit den Inhalten beschäftigt?


Als Arzt kann ich fachlich sagen, dass solch eine Training sicherlich für einige Kinder, z.B. mit Sehstörungen, eine gute Hilfestellung sein kann.
Eine Verallgemeinerung der Probleme auf die dargestellten Ursachen, so wie ich es aus dem Vortrag verstanden habe, sehe ich nicht – zumal auch wesentliche andere Aspekte für die Entwicklung von Kindern eine tragende Rolle spielen: z.B. die frühen Bindungserfahrungen, eigene, wie auch die der Mütter und Großmütter, Erkrankungen und fehlende Feinfühligkeit der Bezugspersonen, Fehlanreize während der Entwicklungsphasen, das Medienverhalten daheim, Bewegungsmangel, usw. usw. Dazu sehen Sie sich bitte unbedingt folgenden Vortrag von Dr. med. Sven Lienert >Frühe Bindungsstörungen und spätere Erkrankungen< an. Sehr interessant zum Thema sind auch die Vorträge von Prof. Dr. Gerhard Roth >Wie das Gehirn die Seele macht< und von Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer >Mediennutzung aus Sicht der Gehirnforschung>

Damit Sie sich ein eigenes Bild machen können, lesen Sie den vollständigen Bericht bitte auf unserer Wissens-Seite. Dort finden Sie diese Diagramme vergrößert vor, wobei die oberen Bilder von der Webseite des Begründers des Trainings Niels Ewald sowie (die unteren vier) von Frau Karin Schmidt stammen:

Störungen des Seh- und Hörvermögens führen zwangsläufig zu mangelhafter bzw. Fehlverarbeitung von Sinneseindrücken, die für die Kinder allerdings als ihr „Normal“ erlebt werden, so dass es Beobachtungen von außen und anschließend korrigierende Hilfen braucht.

Ein Reflex ist eine automatisch ohne Beteiligung des Großhirns ablaufende Reaktion auf einen Reiz.  Frühkindliche Primitivreflexe sind in den ersten Lebenswochen und -monaten eines Kindes zu beobachten und werden dann nach und nach im Rahmen der Entwicklung des Großhirns und dessen sich entwickelnden Aktivitäten unterdrückt. 
Frau Schmidt bezog sich – sehr komplexitätsreduzierend – auf die Theorie nicht vollständig unterdrückter Primitivreflexe, die zu folgenden Störungen führen sollen:

Der Moro-Reflex, eine bei Schreck unwillkürlich stattfindende Streck- und anschließende Beugebewegung (Umklammerung und Schutzsuche) ist ein vorgeburtlich angelegter Primitivreflex, der sich ab dem 3. bis zum 6. Lebensmonat zurückbildet.
Ein normabweichendes längeres Bestehen weist auf eine Entwicklungs-verzögerung oder auf schwerwiegende neurologische Schäden hin.

Auch der ATNR = asymmetrisch-tonischer Nackenreflex ist ein Primitivreflex, der sich im 4. bis 6. Lebensmonat allmählich zurückbildet. Durch drehen des Kopfes in Rückenlage wird die dem Gesicht zugewandte Extremität mit gleichseitigem Faustschluss und Spitzfußstellung gestreckt, während sich die Gegenseite zusammenzieht. Verbleibt der Reflex, behindert er mindestens die motorische Entwicklung; überschießend verweist das auf Hirnschädigung.

Der STNR = symmetrisch-tonischer Nackenreflex erreicht sein Maximum zwischen dem 6.-8. Lebensmonat und verschwindet im 2.-3. Lebensjahr. Beim STNR führt die Beugung des Kopfes zur Brust zu einer symmetrischen Beugung der Arme und zur Streckung der Beine. Dieser Reflex entwickelt sich erst im 6. bis 9. Lebensmonat zu seinem Höhepunkt und wird bereits kurze Zeit später wieder gehemmt.


Unser Gehirn besteht aus etwa 80 – 100 Milliarden Nervenzellen.

Lernen passiert an den Nervenverknüpfungen, den Synapsen, die beständig auf- und abgebaut werden. Viele Wiederholungen stabilisieren Verbindungen.

Jede Nervenzelle im Gehirn hat durchschnittlich 10.000 Synapsen,
die sie mit vielen anderen Nervenzellen verbinden; d.h. insgesamt gibt es
etwa 1 Billiarde = 1.000.000.000.000.000 = 1015 Verknüpfungen.

Je mehr ein Gehirn (anfangs) an Informationen aufnimmt, umso mehr passt hinein.
Haben wir früh im Leben Sicherheit erfahren und Urvertrauen entwickelt, können wir gut neugierig sein und bleiben; was uns später eher lange mental fit bleiben lässt.
Daher ist es wesentlich und hilfreich, so früh wie möglich Hilfestellungen anzubieten, denn Umlernen ist sehr sehr viel schwieriger, als Neues zu erlernen – insbesondere, da unser Gehirn in den ersten Jahren die größten Möglichkeiten anbietet Neues zu verankern.
Das (frühe) Erlernen von zwei Sprachen ist z.B. mit 5 Jahre späterer Demenzentwicklung korreliert.

Oft ist es nicht die eine Ursache, die zu irgendetwas führt; meist ist es das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren, die sich über die Zeit kumulieren.

Unser Gehirn kann nicht nicht lernen.
Alles was wir tun hinterlässt seine Spuren.

Der Ökonom Heckman hat ausgerechnet, wann es lohnt in Bildung zu investieren; denn anfangs bietet das Gehirn zu jedem Entwicklungsschritt viele synaptische Verbindungen an, die es bei geringer Nutzung abgebaut.

Fotos: Lindemann

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