Gewalt – Safety or security?

(safety = Sicherheit, or = oder, security = Schutz)

Vor Kurzem wurde im “Frankenbacher Augenblick” mit Frau Prof. de Nève diskutiert: „Mit welcher konkreten Politik können wir der zunehmenden Tendenz zu rechtsextremen Parteien entgegenwirken?“ Zu diesem Themenkomplex gehört das Thema Gewalt, z.B. mit den von AfD-Vertretern aufgeworfenen Bürgerkriegsphantasien in Deutschland, oder der medial in den vergangenen Jahren immer wieder aufgeworfen Vermutung einer gesamtgesellschaftlichen Zunahme von Gewalt, vor allem aber gegen Rettungskräfte, Polizei und Krankenhauspersonal.

Stimmt es, dass die Gewalt hierzulande zunimmt?
Betrachtet man verschiedene Statistiken, kann man in der Dokumentation eine deutliche Zunahme der Anzeige und Dokumentation von tätlichen Übergriffen dieser Art feststellen. Real aber, so zeigen Studien, lässt sich kein Anstieg von Übergriffen und Gewalttaten zeigen. Es ist sogar seit langem ein deutlicher Rückgang an Gewalt und Gewaltkriminalität zu messen.
Zugleich aber ist im Alltag eine größere Sensibilität für weltpolitisch reale und vermutete Bedrohungsszenarien entstanden: verbale Gewalt, Mikroaggression, strukturelle Gewalt, sexuelle Gewalt usw.. Die Wahrnehmungsschwelle ist durch diese höhere Sensibilisierung und stärkere Fokussierung auf Sicherheit niedriger geworden.
Mit dem so häufiger entstehenden Unsicherheitsgefühl bekam das Thema Sicherheit Hochkonjunktur. Nach dem Zusammenbruch von Banken fragten sich die Anleger, ob ihre Ersparnisse noch sicher sind. Seit dem Ende der Corona-Pandemie besteht die Frage, ob man in Bus und Bahn nicht doch lieber weiterhin einen Mundschutz trägt. Oder, wie sicher ist mein Arbeitsplatz angesichts zunehmenden Einflusses von künstlicher Intelligenz? Kann ich im nächsten Winter heizen, bzw. sind unsere Vorräte an Öl und Gas gesichert? Wie sicher sind meine Daten in einer immer stärker digitalisierten Gesellschaft? Wie sicher sind die Daten meines Mobilfunktelefons oder in der Politik? Wie stabil ist unsere Demokratie? Kann ich unseren Volksvertretern trauen? Wieso sind rechte Parteien so kurz nach der Weltkriegskatastrophe noch immer und wieder populär?
Aus diesem Sicherheitsbedürfnis entstehen Forderungen nach: Mehr Überwachung, stärkerer Reglementierung, härteren Strafen, Möglichkeiten zur Selbstbewaffnung und stärkerem Ausschluss von vermeintlich bedrohlichen Personengruppen.

Gegenargumente
Allerdings ist z.B. aus zahlreichen Studien bekannt, dass das Risiko für Gewalttaten durch das Vorliegen einer psychischen Erkrankung nur bei wenigen Symptomatiken und nur geringfügig erhöht ist. Im Gegensatz dazu belegen internationale Studien seit Jahren, dass Personen mit einer psychischen Erkrankung in einem weitaus höheren Ausmaß selbst Opfer von Gewalt sind. Erkrankte haben ein 5-12fach erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden.
Andererseits stellt Gewalterfahrung häufig eine Ursache für die psychische Erkrankung dar.

Vermehrte Überwachungskameras im öffentlichen Raum schützen aber nicht vor Angriffen; sie können maximal zur späteren Identifizierung von Tätern beitragen. Oder, in den USA gibt es 120 Schusswaffen pro 100 Einwohner, so dass im Jahr 2020 dort 20.000 Menschen erschossen wurden, d.h. mehr als 50 pro Tag; und 2020 sind Schussverletzungen erstmals die häufigste Todesursache für Kinder- und Jugendliche dort.

Begriffsklärungen
Sicherheit ist ein weitreichender und nicht eindeutig zu definierender Begriff. Das lateinische Wort für Sicherheit “securitas” hat seinen Ursprung in “sine cura”, meint also “ohne Sorgen”. Laut Duden wird darunter verstanden: „ein Zustand, der für Individuen, Gemeinschaften sowie Lebewesen, Objekte und Systeme frei von unvertretbaren Risiken oder Gefahren ist“. Dabei ist dann noch zu unterscheiden zwischen objektiver Sicherheit, also dem tatsächlichen Nichtvorhandensein von Gefahren, und subjektiver Sicherheit, dem Gefühl des Nichtbedrohtseins.

Wahrgenommen wird Sicherheit in erster Linie als subjektives Sicherheitsgefühl. Das ist hochgradig individuell und gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Dabei greifen nach dem Schweizer Psychotherapieforscher Klaus Grawe sowohl das Bedürfnis nach Orientierung, Kontrolle und Kohärenz, das Bedürfnis nach Lust (und Unlustvermeidung), das Bedürfnis nach (sicherer) Bindung und das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbt(wert)schutz ineinander und sorgen für eine subjektiv gutes und sicheres Selbst- und Umwelterleben.
Der Soziologe Niklas Luhmann verweist allerdings darauf, dass es keine Entscheidung ohne Risiko gibt. “Sicherheit in Bezug auf das Nicheintreten künftiger Nachteile gibt es nicht.” Der Sicherheitsbegriff sei folglich ein Leerbegriff, eine soziale Fiktion. Sicherheit ist immer auch mit Unsicherheit und damit mit Risiko und Gefahr verbunden.
Daher ist es von besonderer Bedeutung, wie wir mit Unsicherheiten und Risiken umgehen.

Als Schutz gelten Handlungen, Maßnahmen oder Dinge, die eine Gefährdung abhalten oder einen möglichen Schaden abwehren oder eine Gefahr verringern, die Sicherheit verbessern.

Am Ende ist festzustellen, dass durch die gesellschaftliche Forderung nach größerer Sicherheit eine Unsichertheits-Intoleranz entsteht, in deren Folge „unsichere“ Situationen schwerer ausgehalten und nach Möglichkeit vermieden werden. Das resultierende “Abtauchens” aber wird in einem politisch höchst unsicher erlebten Klima zur realen Gefahr für die Demokratie und für die hierzulande mögliche Freiheit, sein Leben weitgehend nach eigener Vorstellung zu gestalten.

Foto: Pixabay
Zu diesem Text anregende Textquellen: Nienaber A., Breinbauer I., Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht; in Nervenheilkunde 2023, 42:836-842 und
Lieselotte Mahler, und Anna Oster, Safety or security?, in Nervenheilkunde 2023, 42:855-863

Literaturhinweise:
Frevel B., Sicherheit: ein (un)stillbares Grundbedürfnis, Berlin, Springer, 2016
Grawe K., Neuropsychotherapie, Göttingen, Hogrefe, 2004
Roedinger E., Schematherapie: Grundlagen, Modell und Praxis, Stuttgart, Schattauer, 2016
Bowlby J., Ainsworth MDS., Frühe Bindung und kindliche Entwicklung, München Ernst Reinhardt,2005
Luhmann N., Soziologische Aufklärung, Wiesbaden, Springer, 2005